Die Zukunft sozialer Netzwerke
Vorweg: Es ist länger geworden, als ich dachte 🙂 10 Min. solltet ihr schon mitbringen…
Sozial ist ja irgendwie DAS nächste große Ding. Seit 10 Jahren. Kaum ein Tag, an dem nicht ein Artikel über die 100-Mrd-Dollar-Bewertung von Facebook erscheint, die glamouröse Zukunft der sozialen Netzwerke und so weiter. Ich teile diese Euphorie nicht, aus ganz verschiedenen Gründen. Im Gegenteil, ich denke sogar, dass soziale Netzwerke schon heute an einem Punkt stehen, wo ihr Wachstum nur noch stattfindet, weil eine riesen Masse an Usern da ist, aber sich schon große Probleme damit abzeichnen, wie man in Zukunft mehr Geld verdienen, sprich: wachsen will.
Soziale Netzwerke und ihr Geschäftsmodell
Fassen wir doch mal kurz zusammen, was „Social Networks“ bisher geleistet haben und woraus sie ihren Besucherzustrom generieren:
- Sie haben jedem eine Profilseite im Internet ermöglicht
- Sie konzentrieren einen immer größeren Teil der Kommunikation auf ihre Plattformen
- Sie generieren Page Impressions / Visits dadurch, dass das Interesse an Mitteilungen des „sozialen Umfelds“ hoch ist bzw. durch mehr oder weniger attraktive Spiele, mit denen die Leute Zeit verbringen
Applaus. Toll. Und womit verdienen Soziale Netzwerke ihr Geld? Genau, das ist nämlich schon das erste Problem. Bisher gibt es nur drei Erlösmodelle:
- Ich lasse die Leute für den Dienst bzw. bestimmte Funktionen zahlen (XING, LinkedIn) oder
- ich nehme die Daten und mache Online-Marketing damit bzw. ich lenke die Aufmerksamkeit meiner User auf Dritte, die dann wiederum mit dem Verkauf eines Produkts verdienen (siehe Geschäftsmodell 1) oder die Aufmerksamkeit über Werbung wieder irgendwo anders hin lenken oder
- ich gebe die Daten weiter, damit andere damit „irgendwas anderes“ machen.
Nummer 3 wird immer problematischer, weil dummer Weise die User immer genauer hinsehen. Nummer 2 ist auch nicht unproblematisch, weil die User von Werbung eher abgetörnt werden und der Dienst immer abwägen muss, wie viel Werbung die Nutzung durch die User (und damit die Generierung weiterer Daten) nicht vermindert. Risikolos funktionieren tut also nur das gute, alte Offline-Wirtschaftsmodell „du bekommst x und bezahlst y“ bzw. der Teil, bei dem man Aufmerksamkeit auf bestimmte Angebote lenkt.
Leider wissen die ganzen Sozialen Netzwerke -und damit meine ich auch die ganz großen- zwei für ihr Geschäftsmodell extrem wichtige Dinge noch immer nicht so genau:
- Was eigentlich der Nutzen der User ist bzw. was die User dazu veranlassen könnte, die Dienste noch stärker -am besten für alles und den ganzen Tag lang- zu nutzen und
- wie man noch Geld mit den Daten verdienen könnte bzw. was man mit den ganzen tollen „big data“ überhaupt machen kann.
Die Situation ist also: ein ganzer Wirtschaftszweig sitzt auf einem Rohstoff (Daten), den er für das Schnitzen von Streichhölzern und Zahnstochern nutzt, versucht immer schneller immer mehr Rohstoffe anzuhäufen. Um die Produktion zu finanzieren, macht man Werbung für Zahnstocher und Streichhölzer, wodurch man aber das Risiko eingeht, weniger Rohstoff zu bekommen, weil die Kunden nur begrenzt Lust auf Zahnstocher und Streichhölzer haben. Und man hat leider auch keine Ahnung, was außer Streichhölzern und Zahnstochern man mit dem Rohstoff sonst noch fabrizieren könnte.
Kurzum: ich halte das Umfeld „Social Networks“ nur sehr begrenzt für revolutionär und glaube auch nicht, dass sich daraus irgendwelche echten „Revolutionen“ ergeben werden. Nicht das wir uns falsch verstehen: die werden noch eine Menge Geld verdienen, aber ich behaupte, dass das in erster Linie durch Geschäftsmodell 1 („zahlen für Leistung“, z.B. für Spiele) passieren wird aufgrund der schieren Masse von Usern und nicht durch „revolutionäre“ Angebote auf Grundlage der Daten.
Die Ökonomie von sozialen Netzwerken
Wir haben also gelernt: soziale Netzwerke generieren durch die Aktivitäten ihrer User Daten, die sie dazu verwenden, die Aufmerksamkeit jedes einzelnen Users „umzuleiten“ auf etwas, das seinen Interessen möglichst genau entspricht. Das Dumme ist nur: die Aufmerksamkeit eines Users an und für sich ist völlig wertlos. Es geht um das Geld, das der User pro Tag / Woche / Monat / Jahr ausgeben kann und man hofft, dass man zusammen mit seiner Aufmerksamkeit auch seinen Cash Flow „umleiten“ kann – nämlich zu den Produkten, auf die man die Aufmerksamkeit lenkt. Grundsätzlich funktioniert das ganz gut.
Das Problem ist aber: die Aufmerksamkeit eines Users ist endlich. Sein Cash Flow ebenfalls. Das viele Geld verdienen soziale Netzwerke nicht deswegen, weil die User insgesamt MEHR Geld ausgeben oder MEHR Aufmerksamkeit „verteilen“ würden, sondern weil sie seit einigen Jahren mehr Aufmerksamkeit statt z.B. auf das Fernsehen online bzw. in den sozialen Netzwerken „verbrauchen“ [2] und damit auch einen größeren Teil ihres Geldes für Dinge ausgeben, die sie dort sehen und nicht in der Fernsehwerbung. Unterm Strich bleibt also alles beim Alten, nur dass sich der Kanal verändert. Sorry wenn ich darin keine Revolution erkenne.
Das Wachstum sozialer Netzwerke ist also sowieso begrenzt durch die Summe des Geldes, das den Usern zur Verfügung steht. Und das müssen sie ja auch irgendwann verdienen, was leider nicht -tadaaa- durch die ständige Nutzung sozialer Netzwerke funktioniert.
Social hat Zukunft, aber nur halb so sexy wie gedacht
Um aufzuzeigen, warum ich das so sehe, habe ich mal 9 Thesen formuliert.
1. Begrenztheit von Aufmerksamkeit und Cash Flow limitiert das Wachstum
Soziale Netzwerke leben von Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit sorgt für User-Input (Daten) und beeinflusst ihr Konsumverhalten (Cash-Flow-Umverteilung). Der Faktor Aufmerksamkeit ist aber begrenzt und hängt wohl auch negativ mit dem verfügbaren Cash Flow (=verfügbares Einkommen) zusammen: je mehr Aufmerksamkeit ich „sozial“ aufbringe, desto weniger Zeit habe ich, um meinen Cash Flow im RL zu steigern, den ich danach auch ausgeben kann. Es wäre auch mal interessant zu untersuchen, wie das Einkommen der User und die Intensität der Nutzung zusammenhängen. Ich bin mir ganz sicher, dass das verfügbare Einkommen negativ korelliert ist mit der Zeit, die in sozialen Netzwerken verbracht wird (und übrigens auch mit dem Grad der Beeinflussung der Kaufentscheidung durch soziale Netzwerke).
2. Aufmerksamkeitsinflation limitiert das Wachstumspotential
Das menschliche Aufnahme- und Verarbeitungsvermögen ist physiologisch und psychologisch sehr begrenzt. Je mehr Kanäle um die eigene Aufmerksamkeit konkurrieren und je komplexer die Versuche der Anbieter werden, die Aufmerksamkeit der User zu erlangen (Bewegung im Bild, Blinkiblinki usw.), desto weniger wahrscheinlich wird die erfolgreiche Konversion der Aufmerksamkeit in eine Kaufhandlung. Zudem sind User insbesondere bei sozialen Medien genervt von Onlinewerbung.
Möglicher Weise erzeuge ich sogar Reaktanzverhalten, d.h. der User tut genau das Gegenteil, baut eine emotionale Oppositionshaltung auf und kauft nicht, weil er genervt ist. Wissenschaftlich ist z.B. mittlerweile belegt, dass das Gehirn von Usern gelernt hat, Werbung im Internet zu identifizieren, bevor sie überhaupt bewusst wahrgenommen wird – und die User diese Werbung dann tatsächlich überhaupt nicht mehr wahrnehmen. Unser Gehirn wird also zum natürlichen Ad Blocker.
Ein weiteres Problem ist, dass wir mit immer mehr sozialen Kontaktpunkten aus unserem sozialen Umfeld konfrontiert werden (z.B. ein Statusupdate, ein Link oder eine persönliche Message) und damit auch der Einfluss eines einzelnen solchen Kontaktpunktes auf unser Verhalten abnimmt. Je mehr also in sozialen Netzwerken insgesamt „los“ ist und je mehr Kontakte und damit Kontaktpunkte ich habe, desto geringer wird der Einfluss des sozialen Netzwerks insgesamt auf meine Aufmerksamkeit und noch wichtiger – auf mein Kaufverhalten.
In eine ganz ähnliche Richtung geht auch folgendes Phänomen: je mehr Kontakte ich habe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass ich ein belibiges „Update“ überhaupt mitbekomme. Zwar versuchen die Netzwerke schon, Themen und Personen, zu denen ich besonders affin bin, zu bevorzugen, aber letztlich ist der Platz in meiner „Update-Spalte“ (und auch Zeit und Aufnahmevermögen der User) immer begrenzt, so dass immer irgendwas durchgeht und zwar umso mehr, je mehr Kontakte ich habe und je aktiver diese sind.
3. Soziale Online-Interaktion unterscheidet sich auch in ihrem Einfluss von „echter“ sozialer Interaktion
Das bedeutet, dass online-socializing anderen Regeln folgt und andere (wahrscheinlich geringere) Effekte auf unser tatsächliches (Kauf-)Verhalten hat. Sprich: ein Facebook-Kontakt kann mich vielleicht mehr beeinflussen als ein beliebiger Rancher aus Texas, aber mit Sicherheit weit weniger, als ein echter Freund, den ich auch regelmäßig sehe und zwar nicht online, sondern im RL. Ich denke auch, dass eine Information aus meinem sozialen Umfeld im RL für eine Kaufentscheidung ein höheres Gewicht hat, als ein Kontaktpunkt aus den sozialen Netzwerken.
Hypothese: User haben an und für sich gar keine besondere Lust, Marken, Unternehmen oder sonstigem Gedöns zu folgen bzw. es hat keinen wirklichen Effekt auf ihr Verhalten. Sie folgen Personen, Geschichten, Emotionen. In geringem Umfang auch Marken und Unternehmen. Ich kenne allerdings keinen Use Case, in dem ein paar (hundert-) tausend „Follower“ oder „Liker“ einen messbaren Effekt auf irgendwas gehabt hätten, geschweige denn echten Umsatz oder Gewinn (ich glaube die „Old Spice“-Kampagne war eine Ausnahme). Wenn ich bspw. NIKE „like“ oder „followe“, dann kaufe ich wahrscheinlich auch schon vorher mit Vorliebe deren Produkte. Wenn dann gemessen wird, dass die Follower X% wahrscheinlicher NIKE kaufen als nicht-Follower, dann wird das oft als Effekt des Following zugeschrieben – ich glaube das nicht.
4. User-Präferenzen bzw. deren Mehrwerte sind teilweise den Interessen der Social Networks diametral entgegengesetzt
User haben keine Lust mehr auf Werbung, sie sind davon genervt, teilweise programmieren Sie Browser-Add-Ons und Programme, die die „ungebliebten“ Komponenten von Social Networks, z.B. Facebook, im Browser einfach ausblenden. Für Social Networks ist Werbung aber DIE Einnahmequelle und lebenswichtig. Zusätzlich werden die User sowohl in Europa als auch in Nordamerika zunehmend sensibel, was die Verwendung und insbesondere die Weitergabe ihrer Daten angeht – für die sozialen Netzwerke ist die Vermarktung der Userdaten aber DIE Zukunftshoffnung.
Aber was wollen die User eigentlich? Einfach. Sie wollen eigentlich schlicht ein Werkzeug. Ein Werkzeug um einfach (!) zu kommunizieren, Inhalte zu teilen und mit ihren „Buddys“ in Kontakt zu bleiben. Idealer Weise ohne Werbung, ohne Datennutzung und erst recht ohne Datenweitergabe. Sie nehmen es bisher in Kauf, bisher, weil es nicht anders geht. Noch. Denn die ersten Open-Source-Plattformen für soziale Netzwerke [Diaspora, Friendica] sind schon unterwegs und in ein paar Jahren könnten darunter echte non-profit-Konkurrenten für Facebook & Co. sein.
5. Datenschutz und Regulation nehmen weltweit zu
Das regulatorische Umfeld ist -auf deutsch gesagt- der Horror für soziale Netzwerke und ihr Geschäftsmodell [1, 2, 3]. In Europa und Nordamerika wird es in Zukunft immer schwieriger werden, die Daten selbst zu nutzen bzw. sogar weiterzuverkaufen. Damit fällt ein beträchtlicher Teil der Mehrwert-Potentiale flach. Mehr Regulation bedeutet weniger Potentiale bei höheren Kosten. Möglicherweise muss Facebook in Europa demnächst andere Richtlinien erfüllen als in den USA als in Indien und so weiter… das ist für die Marge nicht gut und es wird weltweit eher schlimmer als besser.
Das mit der Regulation ist letztlich „nur“ eine Folge der zunehmenden Sensibilität der User. Logisch, denn in den westlichen Demokratien hecheln die Politiker immer den größten Wählergruppen hinterher und langsam aber sicher werden die „Internetz-Nutzer“ signifikant, siehe die jüngsten Erfolge der Piratenpartei. Die User wollen also immer mehr, immer besseren Datenschutz. Und sie werden ihn bekommen, auf die eine oder andere Art. Entweder indem die sozialen Netzwerke so stark reguliert werden, wie die User sich das wünschen oder, indem die User zu Wettbewerbern gehen, die es heute noch nicht gibt, die aber genau dieses Bedürfnis bedienen.
6. Systeme sind mit zunehmender Größe und Uniformität immer gescheitert
Egal ob das chinesische Kaiserreich, das römische Imperium oder das mächtige 1000jährige deutsche Reich, das sich ein allseits bekannter Geisteskranker zusammengeträumt hatte, sie alle hatten eine Gemeinsamkeit: nachdem es eine Weile (mal länger, mal kürzer) ganz gut funktioniert hatte, bröselten die Dinger auseinander. Genau genommen war sogar der Grund immer derselbe: mit zunehmendem Umfang und zunehmender Komplexität wurde der Aufwand zu hoch, der zu leisten war, um das System stabil zu halten. Und dann wurden -in diese Instabilität hinein- Fehler gemacht. Auch hier meistens immer derselbe: trotz abnehmender interner Stabilität wurde versucht, weiter zu expandieren, was die Konstrukte noch weiter destabilisiert hat. Lebensraum im Osten und so. Kommt das jemandem bekannt vor? Genau, mir auch.
Bei den Kirchen kann man dieses Phänomen übrigens auch verfolgen, deren Mitgliederzahlen ja nur noch da zunehmen, wo die durchschnittliche Bildung der Menschen auf dem Niveau einer mitteleuropäischen Grundschule oder darunter liegt.
Im Gegensatz dazu scheinen sich aber kleine Insellösungen über die Zeitalter zu behaupten: während das 1000jährige Reich nach nur 12 Jahren glücklicher Weise Geschichte war, gab es schon vorher und gibt es noch immer tausende regionale Trachtenzüge jedes Jahr allein in Deutschland und vielfältigste Traditionen, die seit hunderten, manchmal tausenden von Jahren praktiziert werden – aber eben immer nur von vergleichsweise kleinen Gruppen und meistens regional begrenzt. Der Versuch, diese zu exportieren, scheitert meist.
Vielleicht sträubt sich der Mensch grundsätzlich gegen monolithische Konstrukte. Vielleicht hat er eine angeborene Veranlagung dazu, sich ab einem bestimmten Punkt zu individualisieren. Oder sogar gegen den Monolithen zu opponieren. Egal warum, aber für die großen Player dürfte auch das im Prinzip keine gute Nachricht sein, denn:
7. Das Internet demokratisiert den Zugang zu jedweden Inhalten und Insellösungen
Es ist -Google etc. sei dank- genauso einfach, die Webseite von Facebook zu finden, wie diejenige irgendeiner abseitigen Interessenvereinigung. Das bedeutet, dass es noch nie in der Geschichte so einfach war, zu Content-Inseln zu gelangen, wie es das heute ist. Was in Zusammenspiel mit dem vorherigen Punkt bedeutet: es war noch nie so einfach, verschiedene Dienste für verschiedene Dinge gleichzeitig zu benutzen. Das macht das „Switchen“ besonders einfach und ist ein riesen Problem für soziale Netzwerke.
Genau das ist ja auch der Grund, weshalb Google und Facebook auf unterschiedlichen Wegen versuchen, ein „Netz im Netz“ zu bilden, damit sie eben steuern können, was sichtbar und damit zugänglich ist und was nicht. Mehr noch, sie könnten damit quasi steuern, was EXISTIERT und was nicht. Was nicht sichtbar ist, existiert nicht, das gilt online mehr denn je. Ob ihnen das aber gelingt, das dürfte sehr fraglich sein, zum Einen weil die Nachfrage nach unkontrolliertem Zugang immer stärker wird und daher entweder ein Wettbewerber entsprechende Features anbieten und erfolgreich vermarkten könnte (möglicher Weise von Kritikern selbst geschaffen) oder gleich die Regulation anrückt und es erzwingt.
8. Wettbewerb war noch nie so schnell „aus dem Nichts“ möglich
Jeder Schüler oder Student kann heute in wenigen Jahren einen Weltkonzern aufbauen. Siehe Google, siehe Facebook, siehe Dropbox…und ziemlich viele andere Startups eben auch. Man braucht nur die richtige Idee und ein Händchen (oder Unterstützung) für die Umsetzung. Online-Businesses skalieren so schnell und so einfach wie kein anderes Geschäftsmodell der Weltgeschichte. Wenn ich 10.000 User mehr habe, dann miete ich eben einen weiteren Server an. Baue ich mehr Funktionen ein – miete ich einen weiteren Server und so weiter…
Wo früher Generationen unzufriedener Menschen murrten, bis das Murren zu kampfbereitschaft und Rebellion wurde UND sich ein passender Katalysator fand, um ein bestehendes System gewaltsam zu entsorgen, da genügt heute im Zweifel die Unzufriedenheit EINER Person mit passender Idee und den entsprechenden Fähigkeiten – und in wenigen Monaten kann auch ein Weltkonzern wie Facebook Leck schlagen. Die Gefahr ist allgegenwärtig und so akut wie nie zuvor in der Geschichte.
Eine weitere gute Nachricht: die neue Revolution ist nicht mehr darauf angewiesen, ein altes System zu zerstören. Heute reicht es, eine Alternative zu schaffen. Das alte System wird einfach marginalisiert. Siehe „Musikindustrie“ – die wehrt sich seit Jahren immer weniger erfolgreich gegen ihre Marginalisierung, die nur entstanden ist, weil es mit einem Mal Alternativen zu ihrem Geschäftsmodell gab.
9. Soziale Netzwerke verstärken Abhängigkeiten und verhindern individuelle Freiheit
Soziale Medien fördern weder Abwechslung noch Erkenntnis oder Innovation – sie verhindern sie eher. Wer bestimmt, was ich zu sehen bekomme, wenn ich nach etwas Bestimmtem suche? Genau: Algorithmen bei Google, Facebook und Konsorten. Sie bestimmen, wessen Nachrichten ich sehe, welche Ergebnisse mir angezeigt werden und welche nicht. Das bedeutet: ich werde von ihnen abhängig, ich werde unfrei, weil ich nur noch sehe, was ich sehen soll, und deswegen kann ich auch nicht mehr frei entscheiden. Der Mensch wird ein gesteuertes Individuum. Eine grauselige Vorstellung für jeden Humanisten.
Aber ich mache mir da keine Sorgen. Warum? Wegen der Punkte 7 und 8. Es gibt immer mehr Menschen, die das erkennen. Und immer mehr Menschen, die gleichzeitig die Fähigkeit besitzen, Alternativen zu schaffen. Twitter und Facebook rühmten sich, die Katalysatoren für den „arabischen Frühling“ gewesen zu sein. Sie waren es nur, weil die Werkzeuge zufällig so waren, wie die Menschen es gerade brauchten. Jetzt fängt Twitter an, Nachrichten in bestimmten Ländern zu zensieren. Facebook tut es entweder schon oder fängt irgendwann damit an. Und dann werden die Menschen einfach Alternativen suchen – oder sie gleich selbst bauen.